Sonntag, 11. Dezember 2011

26 wie 266

„Diese Mannschaft ist wunderbar. Wir lieben uns alle so sehr. Wir sollten heiraten.“
Oliver Bierhoff

Ich leite eine Klasse mit 26 Schülern. Meistens gehe ich aus der Stunde raus und habe das Gefühl, gerade mindestens 226 unterrichtet zu haben. Und jeder einzelne muss gemäß seiner Fähigkeiten gefördert werden. Wir müssen Schüler da abholen, wo sie gerade stehen. Ja... hmmm.. wo stehen sie denn?


Da gibt es Dejan. Sein Vokabular dreht sich nur um: "ey nerv mal nicht, isch schwör" oder "wenn Rihanna mich auf der Straße trifft, wird sie mich sofort heiraten" oder  "isch war da gestern mit so nem Mädchen, die war so.. na Sie wissen schon.. geil" oder "ich schwör, Sie haben was gegen Ausländer. Die ganze Klasse ist laut und nur isch krieg Ärger!" oder "Al hamdullillah". Das letzte heißt "Allah sei dank". Dejan wird Profi-Fußballer. Natürlich. Dafür muss man ja auch keine guten Leistungen in der Schule bringen. "Mir doch egal, ich scheiß auf Schule." Und nicht zu vergessen, das sexy Muskelshirt, dass bei -40°C trotzdem getragen wird. Die Hormone kommen halt aus sämtlichen Körperöffnungen.. Dejans Mutter versucht man zu meiden. Ihr Sohn ist der beste und immer unschuldig. Zu mir am Telefon: "Hallo meine Liebe! (Ich bin nicht deine Liebe!!) Danke, dass du anrufst, aber was soll ich machen? Weißt du, Dejan ist eigentlich lieber Junge, aber musst du streng zu ihm sein und ich erlaube: willst du, zieh ihm an die Ohren." Warum bin ich denn für das an-den-ohren-ziehen-verantwortlich??


Übrigens, wer nicht so viele Muskeln vorzuweisen hat, trägt auch bei +40°C eine Lederjacke. "Weißt du, sieht man breiter aus."


Jaja, die Berufswünsche. Rapper, Models, Schauspieler und natürlich Fußballprofis. Vielleicht sollte ich mir jetzt schon mal ein Autogramm besorgen, falls sie alle mal berühmt werden. Dann kann ich (stolz) sagen: "Der war mal mein Schüler!" Nur für meinen Berufswunsch gibt es kein Verständnis. "Cüüüüs, Mrs. Johnson, wie konnten Sie Lehrerin werden? Das kann doch keinen Spaß machen."


Dann habe ich Abdul. Abdul ist der größte im Schleimen, was leider nichts bringt, da seine Dreistigkeit mit dem Schleim nicht mal annährend zu begleichen ist. Abdul bewegt sich gerne. Auch während der Stunde. Auf den Stuhl steigend, durch die Klasse rennend, auch mal raus vor die Tür. Warum denn auch 45 Minuten auf seinem Stuhl verharren und aufpassen? Überbewertet... Eines Tages in Erdkunde überquert Abdul die ganze Klasse, stellt sich vor Emre und beginnt mit ihm ganz leise (immerhin!) etwas zu besprechen. Ich mindestens 5 Mal: Abdul, Abdul, Abdul... Nach dem 5 Mal: "Ja, was ist??" Ich: "Entschuldige die Störung, aber wir sind gerade in Äthiopien bei der Kaffeepflanze und nicht beim Chillen am Strand." Er: "Sehen Sie nicht? Ich bespreche hier gerade etwas!" Natürlich.. entschuldige vielmals, lieber Abdul. Wie konnte ich nur??? Auch er hat Eltern. Eltern, die ca. 8 Kinder zu Hause haben. Und die mir sagen: "Ah, wissen Sie (hey, jemand der weiß, dass man Menschen über 18 siezen sollte!), wir wissen doch auch nicht weiter, reden Sie doch mit ihm!!" Eigentlich wollte ich Lehrerin werden und nicht Mutter, Vater, Sozialarbeiter, Krankenschwester, Psychologin, ... Die Berufswelt verändert sich eben..


Zu den Spezies gehört auch Can. Er ist nicht beschulbar. Offiziell nicht beschulbar, mit beglaubigten Gutachten. Nach ausführlichen Erklärungen zu der Aufgabe, kann ich eigentlich immer davon ausgehen, dass er sich meldet und sagt: "Was soll ich machen?" Ich würde es ihm ja gerne noch einmal erklären, aber was mache ich dann in der Zeit mit den restlichen 25 und den Aussagen: "Er hat meinen Stift weggenommen", "Sie hat meine Mutter beleidigt und die ganze Generation meiner Familie" (hä??), "Er hat mich angesprochen, dann muss ich doch antworten" (und warum musst du dabei schreien??). Hiiiiilfe!


Dafür ist Can im Kästchen-ausmalen ganz groß. Das kann er sogar 90 Minuten hintereinander machen. Wenn er dran genommen wird, kommt erstmal ein lautes "Ja!", damit er auch die gesamte Aufmerksamkeit der Klasse hat. Die Antwort kommt meist in einer Babysprache, so dass die gesamte Klasse sich kaputtlacht und der Unterricht hin ist. Auf Can ist auch überhaupt kein Verlass. "Warum hast du den Tadel mit der Unterschrift nicht mit?" -Isch weiß nischt. "Wo ist das Heft?" -Isch weiß nischt. "Warum ist der Stundenplan nicht eingetragen?" -Ich weiß nischt. "Warum bist du zu spät?" - Kann isch doch nix dafür, dass der Bus zu früh kam.


Der letzte erwähnenswerte Kandidat ist Justin. Justin nimmt alles mit an Scheißebauen, was er kann. Justin hasst Lehrer, singt im Unterricht, produziert Geräusche, die man eigentlich keinem Menschen zuordnen kann und hat für sich beschlossen, den Unterricht zu sabotieren. Deswegen wird er auch jeden zweiten Tag vom Unterricht suspendiert. Auch Justin hat bestimmte Redewendungen verinnerlicht. Um ein glaubwürdiges Bild von Justin herstellen zu können, müssten folgende Beispiele reichen: "Bitte bitte, letzte Chance!" "Isch schwör, Herr Müller ist dumm- alles nur wegen ihm!" "Walla, Mandy hat gefurzt. Ihhhhh, wie das stinkt." Mandy daraufhin: "Was labberst du? Habe ich gar nicht! Halt die Fresse, du Spasst!" Der Rest der Klasse: "Iiiihhhhh" und hält sich den Pulli vor die Nase. Habe ich schon erwähnt, dass ich in einer Oberschule arbeite und nicht in der Vorschule? Die Unterrichtsstunde ist hin.
Justin wurde letztes Jahr 28 Mal getadelt. Ich glaube, dieses Jahr waren es bis jetzt nur 8 Tadel. Rekord! Deswegen: wenn er wieder mal so einen bekommt, dann schaut er gelangweilt hin und sagt: "Mir doch egal, noch einer." Unzählige Klassenkonferenzen, Strafversetzung in die andere Klasse, unzählige Gespräche mit den Eltern, Schulpsychologie, Jugendamt- alles umsonst. Justin hat eben für sich beschlossen: Ich habe keinen Bock auf Schule und die anderen sollen auch keinen geregelten Unterricht bekommen. Von der Schule schmeißen ist nahezu unmöglich. Welche Schule nimmt ihn denn freiwillig? Natürlich nur die, die auch so einen im Austausch abzugeben hat. Nachdem, versteht sich, man sich die Mühe gemacht hat, die ganzen Protokolle zu ordnen, unzählige Berichte zu schreiben -weil so von oben angeordnet- und nicht zuletzt Justin in der Schule auszuhalten. Also sitzt er da, lacht sich kaputt und ist sicher, dass ihm nichts passieren kann. Und ich muss sagen: er hat Recht.




Und da es in Berlin seit 1,5 auf Sekundarschulen kein Sitzenbleiben mehr gibt, gibt es auch keine Motivation bei den Schülern. "In der nächsten Klasse wird alles besser, die 9. Klasse ist ja vieeeeel wichtiger als die 8te. Bis zur 10ten komme ich sowieso problemlos. Und wieso muss ich überhaupt Mathe, Deutsch, Geschichte, Physik lernen? Ich werde doch sowieso Rapper!"






Ganz häufig müssen wir auch Verstöße gegen die Schulordnung bestrafen. So wie Kaugummikauen in der Schule, seine Cap aufbehalten oder im Unterricht das Handy benutzen. Und all das ist mit Diskussionen verbunden oder aber mit klugen Ratschlägen seitens der Mitschüler. So kommt Justin eines morgens -quasi mit dem Klingeln- kauend in die Klasse rein. Ich: "Das darf doch nicht wahr sein! Schon wieder kaust du einen Kaugummi? Raus damit!" Es klingelt, die Stunde hat begonnen. Justin: "Warten Sie!" Die ganze Klasse und ich warten gespannt. "Ich schlucke!" Daraufhin Abdul: "Ey, schluck ma nischt. Isch schwör, du bekommst Durchfall alter!" Justin: "Bist du behindert? Man bekommt doch keinen Durchfall davon!" Die Stunde ist hin, weil die "bekommt-man-durchfall-wenn-man-einen-kaugummi-schluckt-diskussion" den Rest der mittlerweile verbliebenen 35 Minuten ausfüllt.




Ich habe also 26 Schüler in der Klasse- unterschiedlichste Entwicklungsstufen, unterschiedlichste Leistungsniveaus. Während der eine mit dem Arbeitsblatt fertig ist, hat der andere noch nicht mal angefangen. Nicht mal heterogen ist der richtige Begriff für diese Zustände. Und jeder Lehrer ist alleine in der Klasse. Wie soll man das leisten? Die Idee hinter der Sekundarschule war ja, die guten Schüler sollen die schlechten mit hochziehen. Aber Überraschung! Es ist umgekehrt. Und wer leidet in erster Linie? Die Schüler! In der Hauptschule waren die Klassen maximal 16-Schüler-stark und doppelt gesteckt. Jetzt sind wir mit 26 alleine. Wie soll man da jeden einzelnen fordern und fördern? Gut durchdacht und Geld gespart.. Das ist doch das eigentliche Ziel der Reform gewesen?! Das ist das Ziel fast jeder Reform. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Schule verbessern, aber kein Geld dafür ausgeben wollen, funktioniert nicht.




Ich bin jung und frage mich, wie ich das noch weitere 30 Jahre aushalten soll.

5 Kommentare:

  1. Das amüsiert mich und macht mich traurig zugleich... Diese Reformen, die nichts bringen und alles nur verschlechtern... und dass Sie noch 30 Jahre vor sich haben...

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  2. Einfach nur bitter, wundert mich aber nicht! Das Problem wird erst, wenn man die Kombination aus ungebildeten Schulabgängern, fehlender Einwanderungspolitik und Fachkräftemangel erreicht - dann können wir das Land dicht machen. Bis dahin gibt es auch keine Lehrer mehr, sondern nur noch Rapper.

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  3. Sag den Typen doch, die meinen sie werden Rapper, dass Kool Savas oder Sido oder diverse andere deutsche Rapper in Deutsch richtig gut waren. Einige werden da bestimmt ziemlich staunen.... Oder Marteria, der war richtig gut in der Schule, seine Mum ist sogar Lehrerin. Wer nicht gut ist, wird auch nicht Rapper, denn als Musiker muss man auch ein wenig rechnen, sonst ziehen einen die Plattenfirmen über den Tisch...

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  4. "neeeein, Sie haben doch keine Ahnung! Wallah, brauche ich kein Zeugnis. Rapper müssen nur gute Beats ausdenken!"

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  5. Lehrer zu werden, kann kein Studium beibringen. Es liegt in der Natur und in der Fähigkeit einer Person. Die Neigung die Kinder zu verstehen, sie zu respektieren und zu mitleiden ist kein Zeichnen von jedem.

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