Montag, 27. Februar 2012

Überfordert

„Wir leben mit mehr Menschen zusammen, als wir ertragen können und wir leben mit mehr Dingen zusammen, als wir beherrschen können.“
Yona Friedmann

Das war ja eine Reizüberflutung heute. Test, neuer Sitzplan und dann gibt es mal wieder etwas Neues aus dem Bildungsdschungel!

Der neue Sitzplan liegt auf dem Lehrertisch. Schon steht mindestens 2/3 der Klasse vorne. Alle drängeln, denn jeder möchte ja sehen, wo er/sie sitzt. Plötzlich ein Schrei direkt an meinem Ohr. Gülcan ist außer sich.
- „Maaaan, Mrs. Johnson!!“
„Ja bitte?“
- „Man, Mrs. Johnson! Was haben Sie gedenkt? Ich sitze gaaanz hinten und dann neben Abdul. Wir können uns nicht leiden. Und ich sehe nix hinten.“
„Wie wär es mit einer Brille? Endlich mal. Soll helfen bei Sehschwäche.“
- „Uuhhh, ich will ja nicht hetzten, Gülcan, aber Mrs. Johnson...“ Wie aus dem Nirgendwo taucht Lukas neben uns auf.
„Dann hetz auch nicht!“ Immer diese Klugscheißsprüche.
Gülcan rollt mit den Augen und sagt dann voller Ironie: 
- „Eeeecht? Sie sind so witzig! Mit Brille ist sooo übertrieben hässlich, ziehe ich doch nicht an!“
„Jedenfalls habe ich mir etwas bei der Sitzordnung gedacht. Und jetzt setzt euch alle hin. Die Zeit für den Test läuft. Eure Zeit.“

Jetzt sitzt jeder endlich und hält das Aufgabenblatt in der Hand. Getuschel. Ich kriege einfach keine Ruhe rein. Und die tauschen sich bereits über den Test aus. Nicht, dass das Ergebnis dadurch besser wird, aber ich ärgere mich trotzdem. Und dann geht es schon los mit den üblichen Dingen, die so passieren, wenn ein Test geschrieben wird.
- „Aller, Mrs. Johnson, woher soll ich wissen? Ich war doch nicht da!“
„Du musst dich trotzdem über den Lernstoff informieren und alles nachholen!“
- „Ja mies...“ Was auch immer das heißen mag..
- „Ich brauch eine Tintenpatrone. Hat jemand? Sonst kann ich nicht schreiben!“ Stimmt, man weiß ja auch nicht vorher, dass man in der Schule Tinte verbraucht.
„Isabel, hör auf zu schielen!“
- „Hä?“
„Schreib ja nicht bei Jocelyn ab!“
- „Ich schreib doch nicht ab. Nur weil ich ein Blatt haben will!“ Natürlich.
- „Geben Sie auch Formpunkte? Also Rechtschreibung und wie sauber ich schreib?“
„ Bei den anderen nicht, bei dir schon. Wenn du genauso schmierst, wie bei der letzten Arbeit! Und jetzt Ruhe! Der Nächste, der spricht, gibt ab!“ Es funktioniert.

Nach dem Test kommt dann die Hammernachricht, die ich auch den Schülern verklickern und erklären muss. Super, ‚da oben’ wird was ausgedacht und wir müssen es erklären. Vor Schülern, vor Eltern. Wie immer.
Schüler, die unter normalen Umständen sitzen geblieben wären, können nächstes Jahr in so genannte Praxisklassen kommen. Es gibt keine Auflage von uns aus, die Schüler müssen sich dafür aussprechen. Das bedeutet, dass die Schüler drei Tage die Woche in Betrieben arbeiten und an den restlichen zwei Tagen in die Schule gehen und in Hauptfächern unterrichtet werden. Eine andere Art, an seinen Abschluss zu kommen. Eine andere Art zu lernen. Auf keinen Fall eine schlechtere. Mal was Sinnvolles. Muss ja nicht jeder lernen, manche können einfach besser das Handwerkliche.
Also zurück zu Hauptschul- und Realschulklassen. Nicht so ein Mischmasch wie jetzt. Hauptschüler, Realschüler und Förderschüler (Schüler mit einer Behinderung) in einer Klasse, zu 26 und mehr. So viel kann ich als Lehrer in) gar nicht differenzieren, um jedem gerecht zu werden.
Und für die Lehrer - behaupte ich jetzt mal - bringt es auch Vorteile mit sich. In kleineren Klassen, auf einem einigermaßen gleichen Niveau unterrichten. Wir kommem also zu der Situation zurück, wie wir sie vor der Reform hatten. Teilung in Haupt- und Realschüler. Verrückt ist es. Unfassbar viel Geld in die Reform reinstecken, viele Standorte (Schulen) schließen (zahlreiche Haupt- und Realschulen mussten fusionieren), zahlreiche Lehrer umsetzen, um dann wieder dort zu beginnen, wo man angefangen hat?? Bitte um Erklärung. Weiß zwar keiner, wie das praktisch funktionieren soll ab dem nächsten Jahr, aber Lehrer und Schüler müssen sich ja hierzulande im Minutentakt anpassen.
Meine Schüler verstehen gar nichts mehr. Dejan ist eindeutig überfordert. Verständlicherweise.
- „Ja wie, andere Klasse? Dann denken alle, wir sind dumm. Wenn wir in andere Klasse sind. Scheiße, muss ich besser werden. Aber ohne Sinn das alles.“ Am liebsten würde ich ihm Recht geben. Aber geht ja nicht.

Übrigens, gerade läuft 'Undercover Boss'. Die Chefs unterschiedlicher Unternehmen verkleiden sich, gehen unerkannt an die verschiedenen Standorte, arbeiten da mit, machen auch mal die schmutzigste Arbeit und gucken, was gut und was weniger gut läuft. Na, wie wäre es denn, liebe Senatoren? Eine Stufe runter schalten, an die Basis gehen und gucken, wie es vor Ort läuft, mit den Entscheidungen, die Sie beschließen? Sie müssen sich auch nicht verkleiden...

5 Kommentare:

  1. Finde Ihre Idee mit den "Undercover Senatoren", liebe Mrs. Johnson, sehr sinnvoll! Ich stimme Ihnen vollkommen zu, es werden Reformen beschlossen, ohne jeglichen Bezug zur Realität, meistens mit dem Ziel zu sparen...

    V.

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  2. In der 9a können wir umsetzen wie wir wollen. Die mögen sich alle und quatschen mit jeder und jedem und lächeln sich versonnen an.
    Zur Schulreform: In Bayern wird ja so was ähnliches auch kömmen (müssen). Uns graut davor. Momentan haben wir kleine Klassen, maximal 21 Kids, minimal 13. Homogen sind sie nicht, da wir viele Förderschüler und Schüler mit erhöhtem Förderbedarf in unsere Hauptschule inkludieren. Das übrigens seit fast 10 Jahren.
    Die Reformen im Bildungswesen sind natürlich immer Sparmodelle, die zu Lasten der Schüler und der Lehrkräfte gehen. Keine anderes positives Beispiel ist mir bekannt. Durch mehr als 30 Jahre könnte ich gehen und an jedem Beispiel die Verschlechterung erläutern. Ich mach den Job immer noch gern, bin aber oft froh gestimmt beim Gedanken, dass ich es bald hinter mir habe.

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    1. In diesem Fall lernt man wohl doch nicht aus der Erfahrung... Vielleicht gibt es diese Schulform in Bayern ja unter besseren Bedingungen?!

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    2. Institutionen und Systeme lernen nie aus Erfahrungen. Bedingungen in Bayern? Nun, die Hauptschule hier scheint noch einen etwas besseren Stand zu haben, bzw. es gibt sie immerhin noch.

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