Donnerstag, 7. Juni 2012

Mitleid ist keine Basis


Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muß man sich verdienen.

Robert Lembke

Ich hasse hasse hasse Zeugnisse schreiben. Was für eine bescheuerte Aufgabe! Jeder Strich, jede Ziffer muss stimmen. Ist ja ein wichtiges Dokument. Da sitzt man stunden- und meistens auch tagelang und am Ende entdeckt die Schulleitung sowieso zahlreiche Fehler. Davon kann man eigentlich schon ausgehen. "So, Mrs. Johnson, einmal alles zurück. Bitte alles noch einmal machen. Bis morgen." Als ob die Eltern meiner Schüler so akribisch diese Zeugnisse studieren und damit vors Gericht ziehen würden! Hilft trotzdem nichts. Diese Dinger müssen perfekt sein. Ich hasse sie aber auch aus anderen Gründen. Mit jedem geschriebenen Zeugnis verstreicht ein weiteres halbes Jahr und man denkt nur noch: "Schon wieder älter geworden, aber gar nichts davon mitbekommen!" Und man denkt: "Liebe bezaubernde Jeannie, mach es doch bitte so, dass diese Schüler trotz ihrer zahlreichen (bis so viel kann kein Mensch zählen) unentschuldigten Tage, katastrophalen Noten und Verspätungen von bis zu einem halben Schultag (manchmal auch mehr) einen Ausbildungsplatz bekommen und diese Ausbildung auch abschließen." Wobei man fairnesshalber sagen muss, dass ganz viele Kiddies es geschafft haben, von zweistelligen Verspätungen auf einstellige zu kommen! Und es gibt schon einen Unterschied zwischen 18 und 7 Verspätungen...

Kommen wir wieder zum Praktikum. Das läuft. Die Schüler beschweren sich chorweise, dass sie wieder zur Schule gehen wollen und Arbeiten doof ist. Ich stimme dem zu und sage, ja, Arbeiten ist doof. Willkommen im Leben. Keiner hört auf mich, alle heulen weiter. Anderen macht es widerrum Spaß und sie wollen "niemals mehr Schule gehen". Fatih und Dejan lassen sich wenig bis gar nichts sagen. Weder von uns, noch von den Ausbildern vor Ort. Wer nicht will, der hat schon. Beide suspendiert bis zum Ende des Schuljahres. Aufatmen am Praktikumsort. Was passieren muss, damit jemand fast zwei Wochen aus dem Verkehr gezogen wird, kann sich ja jeder selbst ausmalen. Wobei.. nicht alles, was im Schulalltag passiert, kann man sich tatsächlich ausmalen. Ich konnte es nicht, bevor ich nicht tatsächlich als Lehrerin angefangen habe. Nach dem Schulgesetz kann man bis zu 10 Tage am Stück vom Unterricht suspendieren. Und dann immer wieder. Beim zweiten Mal ruft dann der Schulrat bei der Schulleitung an und bittet um Gnade für den Angeklagten. Man kann ja keinen sooo lange vom Unterricht ausschließen. Sollen alle Schulräte dieser Welt zu mir in den Unterricht kommen. Herzlich Willkommen. Danach werden Sie für 100 Tage am Stück plädieren.

Aber fangen wir doch von vorne an. Ich stehe kurz vor 8 wie immer am Eingang, kontrolliere die Anwesenheit und warte auf die Fehlenden. Mandy, Isabel und Nathalie kommen angehetzt. Sie hetzen wirklich und trotzdem schafft Mandy ihr knallgelbes Getränk beim Laufen zu trinken. Ich erinnere mich kurz an die gestrigen McDonalds-Burger um dieselbe Uhrzeit. Der Kotzreiz wird immer stärker.
- "Was gucken Sie so? Sind wir zu spät?"
"Nein, ich bewundere gerade deine gar nicht chemisch aussehende Flüssigkeit."
- "Ha? Wir haben doch heute kein Chemie..."
"Ich meine nur, dass dein Getränk schön gesund aussieht."
- "Wollen Sie probieren?"
"Abgesehen davon, dass ich so etwas nicht trinke, ist es auch nicht so cool aus derselben Flasche zu probieren!"
- "Voooll gemein, ekeligen Sie sich vor mir?"
"Die Flasche muss man nun wirklich nicht teilen. Zurück zum Thema. Das Knallgelbe da, kann doch nicht gesund sein!"
- "Ah so, ja. Doooooch, is gesund. Sehen Sie, hier steht's: 20% Frucht!" Für genau solche Kandidaten steht es auch auf der Flasche!
"20 % sind sehr wenig! Du kannst mit 20% Frucht und 80% Chemie rechnen." Oh oh, ich habe 'Chemie' gesagt. Gleich kommt der fragende Blick.. Warum nerve ich sie überhaupt damit? Soll sie doch trinken, was sie will!"
Der fragende Blick bleibt aus und Mandy findet wohl immer mehr Gefallen an dem Spiel 'Was befindet sich in der Flasche?'
- "Neeeein, gaaaar nicht 80% Chemie. Gucken Sie, hier steht noch: 'Getränk mit Vitaminen und Näh... ähmm... nährsch..."
"Nährstoffen."
- "Was das?"
"Ähm... Mädels, ich glaube, langsam seid ihr echt zu spät. Beeilt euch und geht schon mal rein!" Die Erklärung der Nährstoffe ist nun wirklich für so eine frühe Zeit zu kompliziert.
- "Oh nein, dürfen wir nicht noch mit Ihnen hier chillen?"
"Dürft ihr, aber nur, wenn ihr zwei Fragen richtig beantwortet." Die Mädels erklären sich einverstanden und hören ganz gespannt zu.
"Frage Nr.1: Welche Maus läuft auf zwei Beinen?" Ratlose Gesichter, bis Nathalie (ein echt schlaues Köpfchen eigentlich, nur zu leise) schüchtern sagt: - "Mickey Mouse?"
"Sehr gut! Und welche Ente läuft auf zwei Beinen?"
Isabel springt in die Luft, meldet sich und schreit: - "ICH weiß es!!! Donald Duck!!!" Sie strahlt über's ganze Gesicht. Leider zu früh.
"Leider falsch. Alle Enten laufen auf zwei Beinen! Das war nix, rein mit euch!" Ich lieeeebe die Gesichter der Schüler in solchen Momenten!!
Während Nathalie und Isabel sich schon zum Reingehen umdrehen, fängt Mandy an zu lachen. Aber seeeehr künstlich.
- "Ey, Mrs. Johnson war so nicht witzig! Aber ich lach ma aus Mitleid, damit Sie nicht weinen!"


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