Donnerstag, 25. Oktober 2012

Mal was aus der Praxis


„Theoretisch Marge, theoretisch funktioniert auch der Kommunismus!"
Homer Simpson

Was für ein Tag... was für eine Woche... was für eine andere Welt. Man denkt, man hat schon alles gesehen und gehört. Aber es gibt Sachen, die gibt es nicht... Situationen, bei denen ich so sprachlos bin, dass ich überhaupt nicht reagieren kann. Wie denn auch, ich habe sie ja auch noch nie erlebt. Ich kenne das so nicht. Mrs. Smith und ich sind leicht fertig. Wir stehen vor der Schule und genießen die frische Luft. Endlich Luft. Und unterhalten uns, wie unglaublich unsere Schüler sind. Zum Glück kann ich von "unseren" Schülern sprechen. Wenn ich alleine diese Klasse betreuen würde, wäre ich wahrscheinlich schon in Frührente. Jedenfalls merkt Mrs. Smith an, dass wir uns mal über nette Dinge des Lebens unterhalten müssten, nicht nur darüber, wie übel alles ist. Recht hat sie, aber wie soll man das bloß anstellen, wenn wir keine Ergebnisse sehen? Übel ist übel. Fertig. Aus. Das einzige was hilft, ist das alles mit Humor zu nehmen. Versuchen wir es... Aber zuvor müssen wir uns über die letzten 24 Stunden austauschen. Ah ja und jedem, der denkt, sowas kann nur Fiktion sein, kann ich nur sagen: Genauso war es.

Wir bestellen die Schüler in die Schule, um den Fortschritt für die größere Aufgabe zu kontrollieren, die sie nächste Woche abgeben müssen. Besser so, als wenn sie nächste Woche mit leeren Händen da stehen und eine 6 kassieren. Wir kennen das doch. Wenn man ihnen nicht hinterher rennt, kommt nichts. Kontrolle ist nicht nur besser, sie ist das Einzige, was wenigstens bisschen hilft.
Die ersten Absagen für diesen "Privatunterricht" kamen schon gestern. Es ist Bayram, ein Feiertag. Das wussten wir natürlich, aber keiner meldete sich eine Woche zuvor ab. So wie verlangt. Also gingen wir davon aus, dass wir heute alle Kiddies sprechen können.
Efkans Mutter meldet ihren Sohn für heute telefonisch ab. Seit wann muss man das schriftlich anmelden, fragt sie? Und dann auch noch eine Woche vorher?! Das hätte sie ja noch nie gemacht. Eben deswegen. Wir müssen doch wissen, mit wievielen Schülern wir rechnen können. Ab und an müssen auch wir planen.

Can meldet sich über Facebook. - "Mrs. Johnson, ich verstehe nicht, was ich machen soll mit Hausaufgaben. Wann kommen Sie mich besuchen, damit Sie es mir erklären können? Heute würde passen." Schön, dass es heute passt. Mir nicht. Diese Hin-und-her-Schreiberei geht mir auf die Nerven. Ich rufe ihn an.
- "Wenn du Fragen hast, kannst du gerne morgen in die Schule kommen."
- "Mrs. Johnson, morgen ist Bayram. Ich gehe nicht arbeiten. Und deswegen kann ich auch  nicht in die Schule kommen. Kann ich Freitag kommen?"
"Und wann hattest du vor, mir zu sagen, dass du morgen nicht kommst?"
- "Hä? Aber Sie wissen doch, ist Feiertag!"
"Du musst dich doch abmelden, wenn du nicht kommst! Es gibt auch Leute, die trotzdem arbeiten an dem Tag."
- "Aber wieso? F.E.I.E.R.T.A.G."
"Ist ja schön und gut. Andere Leute müssen dafür Urlaub nehmen! Du kannst gerne wegbleiben, aber sag doch bitte Bescheid!"
- "Hmmmm."

Abdul meldete sich ebenfalls gestern Abend. - "Mrs. Johnson, ganze Schule hat morgen frei. Nur wir müssen Praktikum." Natürlich, die ganze Schule hat frei- egal ob man feiert oder nicht. Nur du musst arbeiten, weil du Abdul heißt. Leider muss er mir doch heute zeigen, was er bisher gemacht hat. Das Ergebnis ist ernüchternd, der größte Teil wurde noch nicht malangefangen.
- "Man Mrs. Johnson, was regen Sie sich so auf? Locker mach ich das... Ich hab doch noch 3 Tage..."
"Ich rege mich auf, weil du in letzter Zeit echt abgebaut hast!"
- "Ah was, es gibt Schlimmere..." Ja, nach unten gibt es leider auch keine Grenze.

Melina wurde um 9. 30 Uhr bestellt. Um 9 Uhr bekommt Mrs. Smith einen Anruf.
- "Mrs. Smith, wo bleiben Sie? Ich bin schon hier."
"Wir sind doch erst in einer halben Stunde verabredet"
- "Ja, aber ich bin schon da. Können Sie sich beeilen? Bitte." Mrs. Smith beeilt sich tatsächlich. Als sie in der Schule ankommt, ist von Melina weit und breit nichts zu sehen. Um 9.40 Uhr erscheint sie. - "Ich wollt bisschen spazieren, Sie waren doch eh nicht da."

Önder ruft Mrs. Smith gleich dreimal an. Um 18:10, 19:15 und 20.05 Uhr.
- "Ich will nur Praktikum gehen, Schule komme ich nicht!" Warum er erst mal nicht kommen konnte, bleibt ein Rätsel. Es gibt nämlich drei Versionen. Pro Anruf eine Version.
1. - "Gäste kommen, ich muss helfen."
2. - "Gäste kommen doch nicht, aber ich kann auch nicht Schule kommen."
3. - "Gäste kommen nicht. Aber ich kann erst nachmittag kommen." Gebongt, dann komm eben am Nachmittag, sagt Mrs. Smith. Alleine für diese Terminvereinbarungen müssten wir Überstunden anmelden.

Mrs. Smith und ich sitzen also in der Schule und warten. Sie auf Önder und dann auf Jannes. Ich auf Mirko. Mirko stand fälschlicherweise schon heute früh vor der Schule und hat sich gewundert, wo ich bleibe... Der Schüler von heute, entscheidet eben selbst, wann er zur Schule kommt. Die Reihenfolge ist klar. Önder, Jannes und dann Mirko. Önder ist nicht da. Wir warten. Kein Önder. Dann SMS: Komme 10 Minuten später. Warten. Nichts. Irgendwann kommt Jannes. Pünktlich, gut gelaunt und vorbereitet. Önder kommt 45 Minuten zu spät zu seinem Termin. Er reißt die Tür auf. - "Was machtn Jannes hier? Hab ich nicht Termin?"
"Nein, jetzt ist Jannes dran. Wartest du bitte draußen?"
- "Ja, aber können Sie schnell machen? Ich muss gleich wieder weg." Nö, Mrs. Smith macht nicht schnell. Irgendwann ist auch Önder dran. Önder ist also da, seine Materialen aber nicht. Wir sehen nichts. Wir hören Ausreden. Wir haben noch ein Thema für später. Önder geht, nachdem wir ihm wieder einmal gesagt haben, was er nächste Woche abgeben muss.
Nur noch Einer heute. Mirko. Halbe Stunde nach dem eigentlichen Termin ist verstrichen.  Mirko ist nicht da. Sein Handy ist aus. Wir gehen jetzt. Reicht.

Mrs. Smith und ich stehen draußen und können uns nicht entscheiden, wessen Tag besser gelaufen ist. Ihr oder meins. Wir kommen zu keinem Ergebnis, nur dazu, dass wir uns mal auch über schöne Sachen unterhalten sollten.

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