Dienstag, 13. Dezember 2011

Ich schwör, Sie provozieren!

„Ich bin nicht provokant. Provokant ist das, was andere empfinden, wenn die Regeln zu starr sind.“ Gabriele Pauli


Zweite Stunde. Ich komme rein in die Klasse. Überall auf dem Boden Schalen von Sonnenblumenkernen. Ekelhaft. "Mohammed, nimmst du bitte den Besen und kehrst schnell durch die Klasse?" – „Ey nee, muss es sein?“
Fängt schon mal gut an. Mit einem Monolog meinerseits. Klasse muss sauber sein, was ist denn das für ein Eindruck, wenn jemand reinkommt, paar Meter weiter stehen doch Mülleimer??!! Siebte Stunde wieder Unterricht in derselben Klasse. Zack, Klassenbucheintrag der Mathekollegin: Während des Unterrichts wurden Sonnenblumenkerne gegessen. "Gut, dass ihr mir zuhört, verdammt!" Scheiße. Geflucht. Rausgerutscht. No-go. Das darf ich nicht. Ich darf nichts. Ich habe nur Pflichten, Schüler nur Rechte. 

Die ganze Klasse schreit: "Justin wars." Strenger Blick zu Justin, der strengste, den ich drauf habe. "Uhhh, Todesblick, Mrs. Johnson..." Und wieder: blablabla-Vertrauen-missbraucht-lebst-du-zu-Hause-auch-in-einem-Schweinestall-Nummer-blabla.. Oh oh, Glatteis, Mrs. Johnson. Justin rastet aus: „Wieso beleidigen Sie meine Familie? Sagen Sie, meine Mudda ist schmutzig?“ Rufe aus der Klasse: „Cüüüs, Sie haben seine Mudda beleidigt!“ Ich muss echt 5 Mal überlegen, was ich sage. Ich versuche mich zu erklären und bereue es gleich wieder. Ich: „Lieber Justin, ich wollte nur folgendes sagen. A. .. du sol...“ Er lässt mich nicht ausreden. „A, a, a, a, b, c,c,c, d,d,...“ Das Alphabet sitzt schon mal, die Grundschule war nicht umsonst. Justin ist nicht mehr zu bremsen. „Ich schwör, Sie provozieren. Wieso machen Sie das? Was sind Sie für ein Mensch?“ Regel Nr. 1: Keine Rechtfertigung vor einem Schüler. Niemals. Can muss natürlich - seinen eigentlichen „ich-hass-den-so-krass“- Feind unterstützen. „Ja, also Mrs. Johnson, Ihr Verhalten geht gar nicht. Ich glaube, ich muss Ihre Mutter anrufen.“ Er baut sich vor mir auf und droht mir mit seinem Zeigefinger. Er hat mir gerade noch gefehlt.

Ich: „Justin, du gehst jetzt mit mir raus.“ „Ist die cool. Gaaar nix mache ich, mir doch egal, was Sie machen.“ Stimme von Daniel: „Man, Justin, geh mal raus.“ Justin direkt: „Fick dich, du Knecht.“ Meine Geduld platzt allmählich. „Raus und direkt zur Schulleitung.“ „Nö.“ Ich beschließe ihn zu ignorieren und fahre mit dem Unterricht fort. Er sitzt und brummt vor sich hin: „..denkt, die ist cool.. Übertreiberin.. lass mich in Ruhe, alta...“. Die Klasse ist abgelenkt. Ich zum Klassensprecher: „Geh runter zur Schulleitung, sag ihm, er soll Justin hier abholen.“ Als hätte der Schulleiter nichts anderes zu tun.. Plötzlich steht Justin auf und schreit mich an. „Nerv ma’ nicht, ich gehe jetzt nach Hause.“ Endlich. Verletzung der Aufsichtspflicht, weil während der Unterrichtszeit. Mir egal. Justinfrei. Ich sage: „Ich empfehle dir auf dem Weg bei der Schulleitung vorbeizuschauen.“ Er knallt mit der Tür. Ich kann noch ein „Halt die Fresse“ hören. Ich könnte schreien. Zum Teufel mit der Pädagogik. Ich habe fast ein Jahr in ihn investiert. An ihn geglaubt, versucht ihn auf den richtigen Weg zu bringen, unzählige Gespräche geführt. Ich will, dass aus ihm was wird. Ich bin sauer. Ich könnte heulen. Nicht, weil ich beleidigt wurde. Damit kann ich leben. Er kommt damit durch. Jedes Mal aufs Neue. Nichts passiert. Was soll man machen? Tadel Nr. 127? Suspendierung für 3,4,6 Tage? Es gibt keine andere Schule für ihn. Erst mal kein Rausschmiss. Warum muss ich das ertragen? Es ist unerträglich. Keinerlei Konsequenzen. Wahre Geschichte.

Wenigstens kann ich jetzt ruhig Berufskunde machen. Es geht um den Traumberuf. Ich gehe durch die Reihen. Die meisten schreiben. Oder tuen so. Wow. Stille. Der Wahnsinn. Das hält Gülcan nicht aus: „Cüs lan, warum so leise?“ Wäre auch zu schön gewesen.

Eine Mädchenstimme. „Mrs. Johnson..“ Ich bin nicht mehr aufnahmefähig, dennoch: „Ja, Ayse?!“ „Mrs. Johnson.. ähm... haben Sie vielleicht ein Foto für mich?“ Ich perplex. Was wird das denn? „Du willst mein Foto haben? Wozu? Willst du es einrahmen und übers Bett hängen?“ Grins. Und noch mal grins. Ich ahne es schon... „Nee.. ich sammle Naturkatastrophen.“ Ist es ihr Ernst??? Sie kann sich kaum halten vor lachen. Ich muss zugeben, der ist gut. Ich überlege, wie ich kontern könnte. Viel zu müde. Geschafft. Ich muss lügen. „Der war nicht, Ayse.“ Abdul springt auf. „Uhhh, hat dich Mrs. Johnson gedisst!!“ Ayse: „Stooory, hat sie gaaar nischt!“ Ich überlege, was meine Mutter gemacht hätte, wenn ich zur Lehrerin so etwas gesagt hätte. Oder „halt die Fresse“. Ich überlege lieber nicht.

Ich warte aufs Klingeln. Mist, noch 10 Minuten. Ich schaffe es, die Stunde wieder zum eigentlichen Thema „mein Berufswunsch“ zu lenken. Die nächste Frage schafft mich endgültig. „Mrs. Johnson, haben Sie studiert?“ -„Natürlich!“ „Cüss, mieees schlau und so?“

Beim nächsten „wovon-bist-du-denn-müde-lehrer-arbeiten-doch-nur-bis-13-uhr-und-gehen-dann-schlafen-statement“ kann ich für nichts garantieren.

5 Kommentare:

  1. Wenn es in der Wirklichkeit nicht so dramatisch wäre, hätte ich als lustig benannt...

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  2. Was soll man da noch machen. Schule ist das wohl nicht mehr. Eher Verwahrungsanstalt. Mein Mitgefuehl!

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  3. Super beschrieben! Lebendig und bunt! Ich habe mit großem Interesse gelesen.

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  4. Ich hab angst Lehrer zu werden wenn ich das hier lese. Vorstellen konnt ichs mir schon, aber das... Junge Junge.. ist heftig.
    Naja, ich hab mich bei meiner Leistungsfächerwahl nicht von "der-lehrer-is-kacke-mach-lieber-bio" argumenten nicht leiten lassen.
    Aber das hier werde ich weiter verfolgen!
    Kopf hoch Miss Johnson!!!

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  5. Ach was, eigentlich ist es ein toller Beruf und ich liebe ihn wirklich! Trotz der alltäglichen Vorfälle. Großesindianerehrenwort!

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