Freitag, 25. Mai 2012

Nur ein Tag?


“Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst 
hat, ist ein Sklave.”

Friedrich Nietzsche

Ich liege gerade im Bett und kann mich nicht bewegen. War das wirklich nur ein Schultag, der soeben vergangen ist? Mir kommt es vor, als wären es 10 Tage. 10 verdammt lange Tage. So viel ist heute Vormittag passiert. Alles, außer Unterricht. Gestern Abend habe ich mich mit meinen Mädels getroffen und habe ihnen bisschen von dem momentanen Schulalltag berichtet. Nach den Geschichten, schaute mich eine von ihnen unglaublich an und fragte: “Macht der Job dir wirklich Spaß? Dieser Job kann dir doch keinen Spaß machen??” Nun ja, keiner hat mich gewarnt, dass es so sein würde. Dass das Unterrichten bei Weitem nicht das Hauptgeschäft sein würde, sondern alles andere, was man am besten gestern regeln sollte. Aber ja, ich liebe den Job. Meistens. Nur nicht an Tagen wie heute.

Schon am Schultor begegne ich Mandy und ihrer Mutter. Die Mutter fängt gleich an, mich mit ihren Bedenken zu bombardieren. Wie das sein kann, dass so ein teueres Handy verschwindet? Ähmm, Entschuldigung, warum hat Ihr Kind überhaupt so ein Handy und bringt es mit in die Schule? Warum wir Lehrer nicht aufpassen und nicht mit der Klasse reden, warum geklaut wird und warum das und warum jenes. Genau das, was man am frühen Morgen, noch halb verschlafen, braucht! Ich höre mir das paar Minuten an, entschuldige mich, weil ich noch einiges vor Unterrichtsbeginn zu tun habe, verspreche, mich drum zu kümmern und verschwinde im Schulgebäude. Mandy dackelt mir hinterher.

Ich könnte schon am frühen Morgen kotzen! Können die denn nicht einen Tag aushalten, ohne irgendwas anzustellen? Bzw. sollen die doch anstellen, was sie wollen, aber außerhalb der Schule! Ich will nicht jedes Mal Sherlock Holmes spielen müssen! Heute muss ich es wohl…
Dieses Spiel zog sich den ganzen Tag hin, ich kann hier aus wochenendtechnischen Gründen leider nur einige wenige Einzelheiten erzählen.

Zuerst habe ich mir Mandy und Isabel, die daneben saß, geschnappt. Natürlich alles während des Unterrichts. Tür aufgelassen und draussen die Schüler befragt. Mandy ist total aufgelöst. Immer noch. Isabel versucht sie zu unterstützen, wo sie kann. Das Handy wurde also direkt aus der Tasche entwendet, als Mandy kurz auf Toilette war. Die beiden sind sich relativ schnell einig, dass es sich bei den Tätern nur um Dejan und/oder Fatih handeln kann. Immer wieder die zwei… Langsam reicht’s!

Zum zweiten Verhör hole ich also Dejan und Fatih vor die Tür und frage sie, ob sie was wissen. Meine Stunde ist schon lange flöten gegangen.
Fatih wird sofort laut und fängt an, zu schreien.
- “Ich bin immer der Täter! Wieso verdächtigen Sie immer mich?”
“Ich verdächtige dich doch gar nicht, ich will nur wissen, ob ihr etwas wisst, was uns weiterbringen kann!” Dejan sitzt da, wie ein Engel. Den üblichen Hundeblick drauf.
- “Aller, Mrs. Johnson, wieso glauben Sie so schlecht? Ich hab dem Scheißhandy nicht! Ich schwör auf alles! Auf meine Mutter, Koran und mein Leben!”
- “Was ein Schock ich hatte, als Sie sagten, Sie wollen mit mich sprechen! Ich schwör, ich hab nix gemacht! Immer ich und so. Reicht! Ich sag Ihnen, Sie bekommen so Probleme, wenn sie mich noch mal verdächtigen!
“Jungs, geht noch mal in euch und überlegt, ob ihr wirklich so unschuldig seid! Wir sprechen nachher noch mal!”

Zum dritten Verhör (mittlerweile läuft die zweite Stunde meines Unterrichts) hole ich Tuncer. Er sitzt auch da in der Ecke, er muss etwas mitbekommen haben!
“Ich höre!”
- “Ich weiß nix!”
“Ich glaube dir kein Wort!”
- “Aller… wieso??”
“Weil ich es hasse, wenn ihr einander für eure kriminellen Machenschaften deckt!”
- “Was Krimi?”
“Das, was da passiert ist, ist kriminell! Wir sprechen von einer Straftat. Wenn ich hier nicht weiterkomme, dann muss ich die Sache an die Polizei weitergeben!”
- “Aber der ist mein Freund…”
“Das ist keine Freundschaft. Das ist dumm und feige! Wenn ihr schon Scheiße baut, dann steht auch dazu!”
- “Wie reden Sie mit mir? Haben Sie gesagt, ich bin dumm??”
“Tuncer, ich warne dich! Bleib bei der Sache!”
- “Cüs lan, wie Sie mich zwingen! Ok, ich sag was, aber nur für 100€!” Ich glaube, ich höre nicht recht!
“Sehe ich aus wie jemand, der mit dir Geschäfte machen möchte??”
- “Ok 5€! Ich mache Sie Angebot!”
“Und sehe ich vielleicht aus, wie ein Gemüseverkäufer auf dem Markt, mit dem du handeln kannst??? Tuncer! Die Sache ist ernst und du hast gewaltige Probleme, die mit jeder Minute größer werden…”
- “Also eigentlich haben Sie eine echt gute Entscheidung getroffen mit mir. Ich bin Profi, ich hab schon alles gesehen und vooooll viel gehört.”
“Ich treffe grundsätzlich gute Entscheidungen und du auch, wenn du jetzt endlich redest!!! Du verschwendest meine Zeit und hälst mich von meiner Arbeit ab!! Ist dir das klar??? Ich glaube nicht, dass du meinen Stundenlohn zahlen möchtest!!”
- “Ok ok, kommen Sie ma runter!!”
“Komm du mal runter!” Endlich fängt Tuncer an, zu reden. Er nennt paar Fakten und ein paar andere Namen. Ich verhöre also laaange alle, die da irgendwie mitgemischt haben.
--- Bitte nicht stören, Sherlock Holmes bei der Arbeit! ---
Und werde immer wütender und immer müder.
Die Lehrer wechseln. Zum Glück habe ich heute einige Stunden in der 10ten. Die sind nur froh, wenn man sie in Ruhe lässt und können auch schon auf sich selbst aufpassen. Trotzdem bescheuert. Aber die Handygeschichte muss jetzt geklärt werden.

Als ich mit dem letzten ‘Zeugen’ vor der Tür sitze, kommt ein Schrei aus dem Klassenraum. Yunus rennt raus. Er ist total aufgeregt und kriegt kaum zwei Wörter zusammen. Ich muss ihn erst mal beruhigen, um zu verstehen, was er sagen will. - “Mrs. Johnson, Mrs. Johnson… ich schwör, ich war’s nicht. Das Handy lag plötzlich in meiner Tasche!” Diese feigen Flaschen! Handy klauen und wenn es brenzlig wird, dann einem Unschuldigen in die Tasche stecken, damit er dann den Ärger kassiert! Unfassbar!

Nach drei Stunden habe ich, glaube ich, die ganze Geschichte zusammen. Nach dem alle ‘Zeugen’ ein bisschen bis viel gelogen, mir jeweils eine andere Geschichte erzählt haben und keiner es getan haben soll. Es war so:
Dejan muss das Mathebuch bezahlen, weil er sein Buch quasi zerstört hat. Entweder bezahlen oder neues besorgen. Ganz einfach. 20 € sind aber viel, die will man ja nicht unbedingt ausgeben. Also bittet er Bakr aus der Parallelklasse ein Deal an. Bakrs Buch gegen das Handy von Mandy. - “Du gibst mir dein Buch, ich besorg dir Handy!” Beim ‘Besorgen’ greift ihm Fatih natürlich nur allzu gerne unter die Arme… Und Dejan kann ein ordentliches Buch vorweisen. Und dann sitzen beide vor mir und schwören auf alles, dass sie es nicht waren. Der Plan ist nur nicht ganz aufgegangen…

Erst der halbe Tag ist vergangen und ich bin schon fix und fertig. Und sauer. Womit beschäftige ich mich hier eigentlich den ganzen Tag??? Sind die alle noch normal??? Zumindest ist es jetzt geklärt und ich kann in Ruhe den restlichen Tag unterrichten. Denke ich, bis ich die Stimme des Direktors höre. “Mrs. Johnson, Sie gehen doch jetzt in die Klasse von Frau Kirchner? Da gab es eine Schlägerei in der Pause. Ein Junge ist im Krankenhaus mit blutender Nase. Können Sie versuchen rauszufinden, wer ihm den entscheidenden Schlag verpasst hat?” Natürlich, mache ja sonst den ganzen Tag nichts anderes.

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