Mittwoch, 9. Mai 2012

Immer mehr


Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Aristoteles

Boah, was für ein Tag! Ich bin so aufgedreht, dass ich nicht mal mein Nickerchen heute nachmittag machen konnte. Und das muss schon was heißen. Zu viel los für einen Mittwoch, der eigentlich mein kurzer Tag ist!
Ich komme schon früher in die Schule, weil ein Gespräch mit Fatih, seiner Mutter und einem Dolmetscher ansteht. Fatih, der kleine Pascha funktioniert nicht. Also muss man das ändern. Netterweise möchte sich auch der Sozialarbeiter zu uns gesellen, weil er auch schon unzählige Gespräche mit Fatih geführt hat. Nichts hilft. Noten und Benehmen im Keller. Lehrer haben die ewigen Diskussionen satt. Fatih steht schon vor dem Raum, in dem das Gespräch stattfinden soll. Seine Mutter und der Dollmetscher kommen auch. Nur der Sozialarbeiter fehlt. Hmmmm. Ich gehe also in sein Büro, klopfe und … Yunus macht mir die Tür auf. Er guckt zu Boden. Sogleich erblicke ich Bülent, der auf einem Stuhl sitzt und auch zu Boden schaut. Sozialarbeiter nicht zu sehen. Na super.
“Jungs, was ist passiert? Mit euch habe ich hier nun wirklich nicht gerechnet.” Schweigen.
“Lass mich raten, es war alles nur Spaß!” Schweigen.
“Juuuungs, redet!”
Schließlich traut sich Yunus. Ganz leise -immer noch zu Boden schauend- sagt er: “Wir haben uns geschlagen!”
“Wie geschlagen??” Blöde Frage, ich weiß schon, wie man sich schlägt… “Und wo ist Herr Sozialarbeiter?”
- “Der ist gegangen und hat gesagt, wir sollen warten.”
“Na gut, dann wartet. Aber tut mir einen Gefallen bitte und bringt euch in der Zwischenzeit nicht um.” Bülent hat sich immer noch nicht geregt. Er hält sich an den Schläfen und guckt weiterhin weder Yunus noch mich an. Ich bete, dass er doch bitte in dieser Position verharren soll, bis Hilfe kommt. Ich muss nämlich zu meinem eigentlichen Termin- Fatih & Co. Unternehme aber noch einen Versuch, meinen Kollegen zu finden. Auf dem Weg begegnen mir Nafisa und Melissa.
- “Mrs. Joooohnson, wissen Sie schon, was passiert ist??”
“Ja, weiß ich. Yunus und Bülent haben sich geprügelt.” Ich lasse die beiden etwas verdutzt stehen und renne zum Sekretariat, vielleicht hat dort jemand Herrn Sozialarbeiter gesehen. Fehlanzeige.

Also gehe ich wieder zu seinem Zimmer. Vielleicht sind wir aneinander vorbei gelaufen. Ich klopfe und traue meinen Augen nicht. Umut macht mir die Tür auf. Yunus und Bülent schweigen immer noch. Um sie herum stehen Deniz, Umut und Murat. Tuncer sitzt auf dem Stuhl und weint. Wieso werden es immer mehr?? Sie alle reden auf mich ein. Alle auf einmal. Sonst wäre es ja auch langweilig.
- “Endlich kommt jemand.”
- “Tuncer verreckt.”
- “Dejan der Wixer, hat Tuncer so ein Box gegeben, dass er heulen muss. Was für Schmerzen der hat!” Dann steht auch Dejan in der Tür.
- “Was redest du? Ich habe mich doch entschuldigt!!” Wieso werden es immer mehr?? Habt ihr keinen Unterricht?
- “Frau Soundso hat uns her geschickt. Und Tuncer braucht vielleicht Arzt!”
- “Und ihr Spassten, wieso schlägst du ihn, Bülent?”
- “Also, ich hab soooo gelacht, als der ihm eine geklatscht hat!”
- “Mrs. Johnson, wieso ist Fatihs Mutter da? Kriegt er Ärger??” Ahhhhhhhhh!!!
Ich kümmere mich erst mal um Tuncer. Es scheint alles nicht so schlimm zu sein. Er bewegt sich wieder in die Klasse zurück, weil Frau Soundso nach den Schülern rufen ließ. Zum Glück.

Ich eile also zu meinem eigentlichen Gespräch zurück. Fatih rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her. Mutti von Fatih versucht zu lächeln. Und der Dolmetscher redet auf beide ein. Auf Arabisch. Und auch Herr Sozialarbeiter hat sich wieder aufgefunden. Wie es sich rausstellte, hatte er inzwischen auch noch einen dritten Fall zu lösen. Wir führen also dieses Gespräch. Mutti von Fatih schimpft ganz laut auf Arabisch, Fatih flucht zurück und der Dolmetscher versucht alle zu beruhigen. Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber die Mutter muss sehr sehr böse gewesen sein. Fatih wurde immer stiller. Es gibt ganz viele Vereinbarungen. Fatih erklärt, dass er sich diesmal wirklich ändern will! Ich danke allen für ihre Zeit, Fatih zieht seinen Kopf ein und geht in die Klasse zurück. Auch ich gehe in die Klasse. Und halte dieselbe Moralpredigt, wie immer. Ich bekomme dieselbe Antwort, wie immer.
- “War doch alles nur Spaß, wir sind wieder Freunde!”
“Das freut mich für euch, aber ich werde trotzdem eure Eltern informieren müssen!”
- “Ey, Mrs. Johnson, rufen Sie nicht an. Is teuer!”
“Mach dir keine Sorgen, ich habe eine Flatrate!!”
- “Oh…”

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